Xosé Neira Vilas, Galicien und die galegische Literatur
Der Leser hat mit "Memorias dun neno labrego" das erste aus dem Galegischen ins Deutsche übersetzte Buch einer hier noch so gut wie unbekannten Literatur in der Hand, die heute zu den produktivsten des multinationalen Spanien zählt und auf eine etwa achthundertjährige, überaus wechselvolle Geschichte zurückblicken kann. Daß ihre Einführung in unsere Bücherlandschaft mit dem vorliegenden Bändchen beginnt, macht eine gewisse Rechtfertigung notwendig. Sie könnte sich damit begnügen, daß das Buch das am meisten gelesene der ganzen galegischen Literatur geworden ist; daß es seit 1961 bereits II Auflagen in galegischer Sprache mit insgesamt 110.000 Exemplaren (und das bei nur zweieinhalb Millionen Sprechern dieser Sprache) erlebt hat; daß es ins Spanische, Russische, Chinesische, Bulgarische, Portugiesische, Italienische, Tschechische übersetzt wurde; daß es Lesestoff für alle Schulen Galiciens geworden ist und Auszüge daraus in keiner Anthologie moderner galegischer Literatur, in keinem Sprachlehrbuch mehr fehlen. Aber können dergleichen Erfolge nicht auch auf das Konto eines geschickten Managements gehen?
Daß dies nicht für Neira Vilas' Buch zutrifft, mag durch die Vorgeschichte dieser deutschen Erstveröffentlichung angedeutet werden. Auf der Suche nach Material über Sprache und Kultur der nationalen Minderheiten Spaniens, stieß ich während eines Aufenthaltes in Havanna auf den etwas ungewöhnlichen Umstand, daß das Institut für Literatur und Linguistik der Kubanischen Akademie der Wissenschaften auch eine Abtei lung für galegische Literatur besitzt. Was hat diese in Kuba zu suchen? Als Leiter jener Abteilung wurde mir ein Mann in mittlerem Alter vorgestellt, hochgewachsen, mit schmalem Gesicht. Von ihm erfuhr ich, daß die galegische Auswandererkolonie in Kuba seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eine große Zahl kultureller Zeugnisse, darunter an die sechzig Zeitschriften und Zeitungen, hervorgebracht habe, die es zu sammeln und zu bearbeiten gälte. In Kuba entstand damals das Projekt der >Galegischen Akademie<, wurde die galegische Hymne zum erstenmal gesungen, überlebte ein Teil der Künstler und Politiker Galiciens die Zeiten, in denen sie in Spanien politischer Verfolgung oder ökonomischem Ruin ausgesetzt waren. Mit dem Eifer des von seiner Sache zutiefst überzeugten Patrioten sprach Xosé Neira Vilas von seinem kleinen, wenig bekannten Volk. Eine eigenartige Faszination ging dabei von ihm aus. Wir sahen uns nach dieser ersten Begegnung noch mehrere Male. Und immer war es ein Erlebnis für mich, wie er für die Verbreitung seiner Muttersprache und der in ihr geschriebenen Literatur im Ausland warb, wie er Bücher herbeiholte, Zeitungen heraussuchte, bibliographische Hinweise gab und jede Frage mit Präzision zu beantworten suchte. Der unmittelbare Kontakt mit diesem feinsinnigen Mann erschloß mir Einblicke in die galegische Problematik, die aus bloßer Lektüre nur schwerlich zu gewinnen sind. Kurz vor meiner Heimreise schenkte er mir dann einige Bücher, darunter seine >Memorias<, die damals gerade in der spanischen Übersetzung des Autors selbst in Kuba erschienen waren. Was ich bisher über Galicien erfahren hatte, trat mir hier mit der Kraft der poetischen Schilderung entgegen, gewann Form, Bewegung, Farbe, Leben und half mir, die besondere Lage des galegischen Volkes noch besser zu verstehen.
Der Erfolg dieses Buches läßt sich wohl vor allem damit begründen, daß hier alle Hauptprobleme Galiciens als persönlich-konkretes Erleben eines geistig regen Kindes beschrieben sind, dessen unvoreingenommener Blick noch durch keine Ideologie verstellt ist. Dieses Kind - sein Name, Balbino, >Kind<, weist es schon aus - steht für alle galegischen Bauernkinder unseres Jahrhunderts, für ihre Armut, für die schwere Arbeit von frühem Alter an, die Demütigungen durch die Kaziken (die lokalen Potentaten, die die absolute Gewalt im Dorf ausüben), für ihren Bildungshunger, den ein zurückgebliebenes Schulwesen, in einer ihnen unverständlichen Sprache, nicht stillen kann, für ihr Streben, so schnell wie möglich erwachsen zu werden, um auswandern zu können. Xosé Neira Vilas brauchte sich keines verlegerischen Managements zu bedienen (das ist im galegischen Verlagswesen vorläufig auch undenkbar, da es sich gegenüber einer erdrückenden Übermacht kastilischsprachiger Buchproduktion durchsetzen muß, was immer noch mit materiellen Opfern der Autoren und zum Teil auch der Verleger verbunden ist), er hat seinen Leserkreis durch die Qualitäten seines Buches erreicht, zu denen nicht zuletzt auch die der geistigen Welt des Kindes angepaßte, aber kraftvolle poetische Sprache gehört.
Wer aber sind die Galegos überhaupt? Unsere Unsicherheit beginnt beim Namen dieses Volkes, das im Deutschen meist als >die Galicier<, ihre Sprache als >das Galicische. bezeichnet wird, während sie selbst sich >galegos< (spanisch: gallegos) nennen, ihr Land aber >Galicia< oder >Galiza<. Mit dem osteuropäischen Galizien hat es nur den Namen gemein. Um Mißverständnisse zu vermeiden, verwenden wir besser die ihrer Selbstbezeichnung angepaßten Formen >galegisch< und >Galeger<, während sich >Galicien< ja schon durch eine orthographische Kleinigkeit von der polnischen Landschaft unterscheidet.
Die Galeger gehören, neben Basken und Katalanen, zu den nichtkastilischsprachigen Nationalitäten Spaniens. Sie leben im äußersten Nordwesten der Iberischen Halbinsel, am westlichsten Rande Europas, dem >finis terrae< der Alten Welt, und haben sowohl ihre kulturelle Eigenart als auch ihre besondere romanische Sprache bewahrt.
Die von den Römern Gallaecia genannte Provinz, deren Bevölkerung, die callaeci, vorwiegend Kelten waren, umfaßte nach der Eroberung durch Rom im 2. Jahrhundert v. u. Z. ein weitaus größeres Gebiet als das heutige, aus den vier spanischen Provinzen Lugo, La Coruña, Orense und Pontevedra bestehende Galicien. Es erstreckte sich nach Súden hin bis zum douro im heutigen Portugal.
Die Sprache dieses Gebietes unterschied sich eindeutig vom Kastilischen (dem späteren >Spanischen<) und anderen Dialekten der Halbinsel. Ihre Lautsubstanz war vom Keltischen geprägt, ihr Wortschatz von den germanischen Sueben, die hier vom 4. bis 6. Jahrhundert ein bedeutendes Reich hatten, beeinflußt. Nahezu unberührt blieb sie dagegen vom Baskischen, und auch vom späteren arabischen Wortgut wurde sie nur relativ gering durchsetzt. Ende des n. Jahrhunderts spaltete sich Portugal von Galicien ab, im 13. Jahrhundert dann die portugiesische Sprache vom Galegischen. Das heutige Galegisch unterscheidet sich durch einige Laute, vor allem aber durch seinen Wortschatz vom Portugiesischen. Infolge der Eingliederung Galiciens in den spanischen Staatsverband ist besonders das Vokabular des öffentlichen Lebens und der höheren Kultur vom Spanischen (Kastilischen) geprägt.
Galicien spielte im Hochmittelalter eine besondere Rolle auf der Iberischen Halbinsel. Im Jahre 711 waren die Araber in das Land eingefallen. Bald hatten sie die ganze Hispania unter ihre Herrschaft gebracht. Lediglich ein schmaler Streifen im Norden, der Galicien und die unzugänglichen Bergregionen der Pyrenäen umfaßte, konnte seine Unabhängigkeit bewahren und eine reichere Kultur entwickeln, da der reißende Unterlauf des Douro eine natürliche Barriere gegen die Araber bildete. Im Jahre 813 glaubte man das Grab des Apostels Jakobus entdeckt zu haben. Es entstand die Stadt Santiago de Compostela, die zu einem der bedeutendsten Wallfahrtsorte der Christenheit, neben Rom und Jerusalem, wurde. Die große Bedeutung des heiligen Jakobus als Symbolgestalt der Reconquista brachte es mit sich, daß Galicien das geistige und kulturelle Zentrum der Halbinsel und der Umschlagplatz der aus dem übrigen Europa kommenden Ideen und Kulturformen wurde, die über den Pilgerweg, den sogenannten >camino francés< (französischer Weg) nach Spanien gelangten. Die kulturelle Vormacht Galiciens ist eine der Ursachen, weshalb die im u. und 13. Jahrhundert aufblühende galegisch-portugiesische Lyrik mitsamt ihrer Sprache zum unbestrittenen Vorbild für den mittleren und östlichen Teil Spaniens wurde. Selbst der kastilische König Alfons der Weise dichtete in galegischer Sprache.
Die heutige Rückständigkeit Galiciens hat ihre historischen Wurzeln im Niedergang des - ab 1071 mit León in Personalunion verbundenen - Königreiches im Verlaufe des 15. Jahrhunderts. 1085 hatte sich die portocalensische Grafschaft südlich des Miño von Galicien abgetrennt. Das selbständige Königreich Portugal, das 1143 daraus entstand, verlegte seine politischen Zentren in den Süden, nach Coimbra und später nach Lissabon. Damit verlor der galegische Hochadel die Rückendeckung im Widerstand gegen das die Herrschaft über ganz Spanien anstrebende Kastilien. Daneben führte das Ende der Reconquista zum Verlust der geistigen Vorbildrolle Santiagos. Nach der endgültigen Unterwerfung Galiciens unter das von Kastilien geführte spanische Königtum wurden die rebellierenden galegischen Adligen durch kastilische Lehnsmänner ersetzt, die einflußreichsten geistlichen Ämter von Kastilien aus verteilt, Beamte aller Ebenen vom Hof in Toledo aus nach Galicien entsandt. Aus dem Jahre 1532 stammt das letzte amtliche Dokument in galegischer_ Sprache, aus dem Jahre 1465 das letzte galegische Gedicht.
In der folgenden Zeit sinkt Galicien zu einer bedeutungslosen Randprovinz Spaniens herab, ohne bodenständige Führungsschicht und ohne wirtschaftliche Entwicklungschancen. Das Galegische wird nur noch vom Volk, das heißt vor allem von den Bauern, Fischern und Seeleuten gesprochen. Die Sprache der Verwaltung, der Kultur und selbst der Kirche ist das Kastilische. Galegisch wird praktisch nicht mehr geschrieben. Für die Masse der ungebildeten Galegos blieb es bis vor ganz wenigen Jahren so. Zwar entstand in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wieder eine galegischsprachige Literatur, doch es fehlte in dem durch die bäuerliche Kleinstwirtschaft, das >Minifundio<, gekennzeichneten Land an einer einigermaßen entwickelten Bourgeoisie, die sich mit Macht der Sache ihrer nationalen Kultur und Sprache angenommen hätte, wie dies beispielsweise in Katalonien schon im 19. Jahrhundert der Fall gewesen war. Die enorme wirtschaftliche und kulturelle Rückständigkeit des von der Natur durchaus begünstigten Landes, die totale Beherrschung der Landbevölkerung durch Kaziken, Verpächter und Kirche haben dem Galeger durch die Jahrhunderte ein tiefes nationales und gesellschaftliches Minderwertigkeitsgefühl eingepflanzt. So sehen breite Kreise der Bevölkerung auch heute noch ihre Sprache als verachtenswürdigen Dialekt des Kastilischen, ihren Gebrauch als Zeichen der Unbildung an. Das Bild des Galego, wie es im spanischen Durchschnittsverstand herumgeistere - gutmütig, simpel, arbeitsam, ein Wesen, das, nach den Worten eines spanischen Politikers, erschaffen wurde, dem Esel die Arbeit zu erleichtern -, ist das geistige Symptom für einen historisch bedingten Sachverhalt.
Vor diesem historisch-sozialen Hintergrund konnte sich die galegische Literatur nur unter enormen Schwierigkeiten entwickeln. Ihre Geschichte weist ganz eigentümliche Phänomene auf, auf die man zunächst nicht gefaßt ist.(1) So muß die mittelalterliche, galegisch-portugiesische Phase, in der eine Trennung der Sprache, der Verfasser oder der Themen in galegische und portugiesische nicht möglich ist, deutlich von der modernen, um die Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzenden Literatur unterschieden werden. Diese letztere hat sich zunächst völlig unabhängig von der ersteren entwickelt, ja selbst in völliger Ignoranz der mittelalterlichen Literatur, die erst zu Beginn' unseres Jahrhunderts über den Kreis der spezialisierten Philologen hinaus bekannt wurde. Des weiteren ist da die Diskontinuität der literarischen Entwicklung: das >Große Schweigen< zwischen dem Ende des 15. Jahrhunderts und dem Beginn des 19. Jahrhunderts, danach Perioden, in denen der literarische, ja überhaupt schriftliche Gebrauch des Galegischen in Spanien als politisches Vergehen unter Strafe gestellt war: 1814-1820, 1823-1841, 1936-1946. Jedesmal handelte es sich um Zeiten, in denen besonders diktatorische, zentralistische und hart gegen jede zentrifugale Regung durchgreifende Regimes die Macht innehatten. Drittens ist schließlich die Frage zu stellen, welche aus Galicien stammenden Schriftsteller überhaupt zur galegischen Literatur zu zählen sind. Sprachlich-kulturell sich selbst entfremdete Völker haben es stets schwer, eine Literatur hervorzubringen, die über den lokalen Rahmen hinaus Beachtung verdient, und Galicien erschien den spanischen Literaturhistorikern in der Tat >nunca fertil en poetas<, niemals fruchtbar an Dichtern. Doch haben nicht wenige Große der spanischen Literatur, obwohl aus Galicien stammend, in ihrem Leben keine Zeile auf Galegisch verfaßt. Im Falle der Padres Feijoo und Sarmiento, die im 18. Jahrhundert schrieben, war das ganz natürlich, fehlte dem Galegischen damals doch jede Tradition und jede soziale Trägerschicht. Aber auch im ausgehenden 19. Jahrhundert, als sich eine galegischsprachige Literatur schon mit bedeutenden Zeugnissen etabliert hatte, zogen namhafte Schriftsteller Galiciens die erprobten Wege der kastilischen Literatursprache dem Experiment mit der galegischen Muttersprache vor. Zwei von ihnen stehen für alle: Emilia Pardo Bazán und Ramón del Valle-Inclán. Mit ihren Werken, in denen beide immer wieder auf Galicien zurückkommen, gehören sie dennoch zum galegischen Kulturkreis.
Trotz dieser Widersprüchlichkeiten und Diskontinuitäten bietet die galegische Literatur ein breites und vielfältiges Panorama. Die mittelalterliche galegisch-portugiesische Literatur, deren ältestes erhaltenes Zeugnis, eine >cantiga de maldizer< (Schmählied) gegen König Sancho von Navarra aus der Zeit um 1196 ist, erlebte ihren Höhepunkt im >Alfonsinischen Zeitalter< (unter Alfons III. von Portugal - 1245 bis 1279 - und Alfons X., dem Weisen, von Kastilien - 1252 bis 1284). Sie bestand vorwiegend aus Liebes- und politischer Lyrik und wird mit dem zweisprachigen Cancioneiro Geral von 1516, der auch kastilische Gedichte enthielt, beendet.
Über die Ursprünge der galegisch-portugiesischen Literatur des Mittelalters sind sehr unterschiedliche Meinungen geäußert worden. Manche kastilozentristischen Philologen, wie der Altmeister der spanischen Romanistik Ramón Menendez Pidal, und besonders Dámaso Alonso, wollten sich nicht mit dem Gedanken abfinden, daß es Galicien und nicht Kastilien gewesen war, das die ältere und im Mittelalter bedeutendere Literatur hervorgebracht hatte. Als in den vierziger Jahren die mozarabischen jarchas, romanische Liebeslieder aus dem unter arabischer Herrschaft stehenden Andalusien, entdeckt wurden, glaubte man in ihnen den Beweis dafür gefunden zu haben, daß Kastilien nicht nur im spanischen, sondern sogar im Rahmen der gesamten romanischen Kulturwelt die ältesten lyrischen Zeugnisse besäße, (2) von denen alle andere mittelalterliche Dichtung, darunter die galegisch-portugiesische, abgeleitet sei. Allein weder die Sprache dieser Gedichte, die vom Kastilischen am weitesten entfernt ist, noch die in ihnen ausgedrückte Mentalität sind geeignet, den kastilischen Charakter der jarchas zu beweisen. Denn im sittenstrengen Kastilien der Reconquista hatte die große Freiheit, mit welcher in den jarchas die Mädchen ihre Liebesgefühle zum Ausdruck bringen, keinen Raum. Dagegen fußt die galegisch-portugiesische Dichtung auf antiken Traditionen, die, wie Sanchez Albornoz belegt, (3) sowohl in Galicien als auch in Andalusien überlebt haben, was die Ähnlichkeit zwischen den jarchas und bestimmten galegischportugiesischen Liedformen erklären kann. Solche literarischen Traditionen der Antike sind für Altkastilien nicht nachzuweisen und sind bei den aus der Verschmelzung von teilweise erst relativ spät romanisierten Basken, Kantabrern und Goten hervorgegangenen Kastiliern auch schwerlich vorstellbar. Weitere Beiträge zur Herausbildung der galegisch-portugiesischen Literatur stellten die mittelalterliche Vagantendichtung, die aus dem christlichen Marienkult hervorgehende Literatur und nicht zuletzt die liturgische Musik dar, für deren Pflege und Verbreitung Santiago ein Zentrum war.
Die Eigenart der altgalegischen Dichtung, ihr besonderer Reiz, der seit ihrer Wiederentdeckung im 20. Jahrhundert fortwährend zur Nachahmung führte, liegt vor allem in dem Genre der cantigas de amigo. Liebessehnsüchte, züchtige Annäherungen, Freuden der Erfüllung und Trennungsschmerz werden hier aus weiblicher Sicht dargestellt. Das war nicht schlechtweg ein Kunstgriff, sondern geht auf die sozial geachtete Rolle zurück, die die Frau, besonders aber Sängerinnen und Tänzerinnen im alten heidnischen Galicien innehatten. Übrigens traten diese selbst bei kirchlichen Festen noch auf. Die ältesten dieser musikalisch unterlegten Dichtungen beziehen sich auf einen bäuerlichen Personenkreis, die jüngeren, stärker konventionalisierten, folgen den thematischen und formalen Mustern der provenzalischen Troubadourlyrik. Unter den cantigas de amigo gibt es die volkstümlichen >bailadas<, fröhliche Tanzlieder, die >alboradas< oder >albas<, die, wie es der Name sagt, >im Morgengrauen< nach sehnsuchtsvoll durchwachter Nacht entstanden sind, die >mariñas< oder >barcarolas<, in denen das Meer als Zeuge der Liebe angerufen wird, die auf den Festen lokaler Heiliger gesungenen >cantigas de romería< usw. Der Formenreichtum dieser Lieder war für moderne Dichter, wie für Fermín Bouza Brey (1901-1973) und Alvaro Cunqueiro (geb. 1911), nach dem ersten, härtesten Abschnitt der Franco-Diktatur eine willkommene Inspirationsquelle für politisch unverdächtige Nachschöpfungen, mit denen die poetischen Potenzen der verpönten galegischen Sprache wieder sichtbar gemacht werden konnten. Er hat auch einen Andalusier wie Federico García Lorca zu seinen >Sechs galegischen Gedichten< von 1935 angeregt.
Nach dem >Großen Schweigen< setzt die galegische Literatur im 19. Jahrhundert zunächst wieder mit Lyrik ein, die auch im >Rexurdimento<, der Wiedergeburt der galegischen Kultur, die dominierende Gattung blieb. Den historisch-gesellschaftlichen Hintergrund des Wiedererstehens der galegischen Literatur als Ausdruck eines zunächst nur regional empfundenen Sonderbewußtseins, das sich erst am Ende des 19. Jahrhunderts zu der Auffassung hin entwickelt, daß die Galeger eine Nationalität oder gar eine Nation seien, stellte die Herausbildung einer Landbourgeoisie dar. Ihre progressivsten Vertreter forderten im Verlaufe des spanischen Revolutionszyklus des 19. Jahrhunderts in Einklang mit denen anderer Regionen Spaniens zunächst nichts weiter als politische und wirtschaftliche Dezentralisierung, um die in den Regionen und Provinzen erwirtschafteten Mittel für die Entwicklung dieser Gebiete selbst verwenden und lokale Angelegenheiten ohne den realitätsfernen Eingriff Madrids regeln zu können. In Galicien galt es vor allem, die enorme ökonomische Rückständigkeit und das Massenelend der Bauern, das diese zur Auswanderung zwang, zu überwinden.
Der >provincialismo<, wie sich die galegische Regionalbewegung zunächst nannte, machte schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf die besondere Rolle Galiciens in der spanischen Kultur des Mittelalters aufmerksam, ohne allerdings die ethnisch-kulturell-sprachliche Sonderart der Galeger zu erkennen. Selbst die ersten Vertreter des Rexurdimento schreiben ihre Werke in der Annahme, daß sie einen Dialekt, keine Sprache, auf literarische Höhe heben. Es mußten erst die galegoportugiesischen >Cancioneiros< (Liedersammlungen) veröffentlicht werden, ehe man begriff, daß sich das Galegische längst als Sprache einer Hochkultur ausgewiesen hatte.
1853 erscheint das erste gedruckte galegische Buch, die >Gaita gallega< (Galegischer Dudelsack), ein Gemisch von Prosa, Versen und grammatisch-lexikalischen Plaudereien von Juan Manuel Pintos Villar. Zehn Jahre später legt eine junge Frau von 26 Jahren, Rosalia de Castro, den Gedichtband >Cantares gallegos< vor, dessen großer Erfolg andere Schriftsteller galegischer Herkunft veranlaßte, ebenfalls in ihrer Muttersprache zu schreiben, was ja noch ein Risiko war, denn allgemein galt, daß keine Bücher kaufen konnte, wer galegisch sprach, und daß, wer das Geld dazu gehabt hätte, diese Sprache verachtete. Rosalia de Castro (1837-1885) überwand diese Scheu, nicht zuletzt unter dem Einfluß ihres Mannes, des für die Sache Galiciens engagierten Historikers und Journalisten Manuel Murguía. Ihre Gedichte sind von reifer poetischer Form, sie zeigen in einem vielfarbigen Fresko ein vorurteilsloses Bild des galegischen Volkes, schildern seinen Humor und seinen Fleiß, seine Sitten und Bräuche, seine Volkstypen und lassen erkennen, daß die Armut und die Diskriminierung des Galego durch den Kastilier die Ursachen für die Massenauswanderung sind.
Zwischen den >Cantares< und dem zweiten, nicht minder bedeutenden Gedichtband Rosalia de Castros, >Follas Novas< (Neue Blätter) liegen die >sechs revolutionären Jahre< (1868-1874), in denen sich der galegische Provincialismo zum Federalismo entwickelt und - teils als Frucht des beschleunigten Reifeprozesses der nationalbewußten galegischen Intelligenz, teils als Ergebnis des Wirkens von Persönlichkeiten gesamtspanischer Bedeutung, wie des katalanischen Theoretikers des Föderalismus Pi y Margall - die Idee einer unabhängigen, mit Spanien und Portugal föderierten galegischen Republik an Boden gewinnt. So sind die >Follas Novas< noch stärker mit patriotischem Akzent versehen. Zwar bleibt der Rahmen immer noch das Volksleben Galiciens, doch erhalten die Kritik an der Misere der Bauern und Fischer, die Darstellung des harten Loses der Auswanderer und, zum erstenmal, auch der Lage der galegischen Frau ein deutliches Profil. Es gehörte angesichts des moralischen Konformismus im Spanien des i9. Jahrhunderts viel Mut dazu, am Tabu der Achtung der alleinstehenden Frau und der außerehelichen Kinder zu rühren, von denen es in Galicien auf Grund der Auswanderung der arbeitsfähigen Männer mehr als in anderen Gebieten Spaniens gab. Rosalia de Castro selbst war die Tochter eines adligen Fräuleins und eines Geistlichen, kannte also das Problem der Diskriminierung aus eigenem Erleben und brachte das Thema als erste in die galegische Literatur ein. Es taucht dann immer wieder auf, bei Carballo Calero bis hin zu Neira Vilas, der es in seinem Roman >Querido Tomás< (Geliebter Tomás) und in mehreren Erzählungen darstellt, und ist bis heute aktuell geblieben.
Das Erscheinungsjahr von >Follas Novas< wird nicht zu Unrecht manchmal als der eigentliche Beginn des galegischen Rexurdimento bezeichnet, denn 188o traten zwei weitere Vertreter der galegischen Literatur mit Werken hervor, die neben denen Rosalia de Castros zu klassischen Texten werden sollten: Manuel Curros Enríquez (1851-1908) mit >Aires da miña terra < (Weisen meines Landes) und Valentin Lamas Carjaval (1849-1906) mit >Saudades gallegas( (Galegische Sehnsüchte).
Curros, den es hier besonders hervorzuheben gilt, ist der politische Dichter unter den Großen des Rexurdimento. Er war eher zufällig zur galegischen Literatur gestoßen. Nachdem er sich bereits als kastilischsprachiger Dichter einen Namen gemacht hatte, bekannte er sich 1876 anläßlich eines Wettstreites um das beste galegische Gedicht zum erstenmal zu seiner Muttersprache. Der mittellose liberale Journalist erhielt die hoch angesetzte Prämie. Seine wenige Jahre danach erschienenen >Aires da miña terra( enthalten scharfe Angriffe auf die in Galicien völlig im Dienste des monarchischen Zentralismus und der Kaziken stehende Kirche. Sie wurden vom Bischof von Orense verboten, der Autor wurde exkommuniziert und vor Gericht gestellt. Für den Erfolg seines Buches war das eher förderlich: 1881 erschien bereits die zweite Auflage, erweitert um die Anklage- und Verteidigungsschriften, gleichsam als Trophäen. Außer mit seiner auch in späteren Werken fortgesetzten antiklerikalen Polemik ist Curros vor allem durch sein Auftreten gegen die absolutistische Monarchie bekannt geworden. Er kritisierte die sozialen Zustände auf dem Lande und führte seinen Landsleuten eindringlich die Armut der galegischen Bauern, ihre Ausbeutung durch die Kirche, den größten Grundbesitzer in Galicien, durch Steuerlasten und ein ungerechtes Pachtsystem vor Augen. 1896 wanderte er nach Kuba aus, wo er u. a. die Gründung der Galegischen Akademie vorbereitete. Er erlebte später den Unabhängigkeitskrieg der Karibikinsel und erkannte schon damals, ebenso wie sein kubanischer Zeitgenosse José Martí, die Bedrohung, die von den USA für Mittelamerika ausging.
Ein weiterer Hauptvertreter des Rexurdimento, Eduardo Pondal (1835-19r7), brachte in die galegische Literatur den Breogán-Mythos als Beitrag zur nationalen Selbstverständigung ein. Der von Murguía in seiner >Geschichte Galiciens(1865) entwickelte Gedanke vom keltischen Anteil an der Entstehung des galegischen Volkes hatte rasche Verbreitung und großen Anklang gefunden. Die Taten des Feniers Breogán, Führer der aus Irland kommenden Kelten, der in vorrömischer Zeit ein starkes bäuerliches Galicien begründet habe, entstammen allerdings ganz der Phantasie Pondals, sie werden vor allem in seinem Gedichtband >Queixumes dos piños< (Kiefernrauschen) besungen.
Vom eher kulturell orientierten Provincialismo gelangte die Bewegung zur Emanzipation Galiciens in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts, nach dem Zwischenspiel des Federalismo, zum Regionalismus politischer Orientierung. Sie beantwortete die Angriffe Madrider Intellektuellenkreise auf die kulturellen und politischen Emanzipationsbestrebungen in Katalonien, dem Baskenland und Galicien zunächst mit einer Radikalisierung ihrer Polemik gegen den Zentralismus der 1874 einsetzenden monarchistischen Restauration. Das Programm des in den nichtkastilischsprachigen Gebieten entstehenden Regionalismus wird in dem Buch >EI Regionalismo< des galegischen Ökonomieprofessors Alfredo Brañas (1859-1900) dargelegt, das 1889 in Barcelona erschien. Im Gegensatz zum Föderalismus, der einen Bund unabhängiger Staaten anstrebte, forderte der Regionalismus ein ausgewogenes Verhältnis zwischen einer mit weitreichenden Vollmachten ausgestatteten Regionalregierung und der Zentralgewalt. Brañas entwickelte die zuvor schon des öfteren geäußerte Idee, nach der die ökonomische Benachteiligung Galiciens und anderer i Regionen beseitigt werden könne, wenn diese die Verfügungsgewalt über ihre eigenen Ressourcen erhielten, was im Interesse vor allem der Bauern, aber auch eines Teils der Bourgeoisie lag. Neu ist seine Forderung, den regionalen Sprachen einen offiziellen Status in den Gebieten einzuräumen, in denen sie von der Mehrheit der Bevölkerung gesprochen werden. Auf dieser programmatischen Grundlage entstehen in Galicien wie in Katalonien und im Baskenland in den neunziger Jahren politische Organisationen mit einer breiten Massenbasis, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu Parteien konstituieren. Die erste öffentliche Rede in galegischer Sprache wird iNi von Murguía auf den >Xogos Floraes< (>Blütenfest(, ein Literaturfestival) in Tui gehalten. Dabei wird zum ersten Male von der >galegischen Nation< gesprochen. Von da an wird die Verwendung des Galegischen bei offiziellen Anlässen zu einem Bekenntnis zur Sache Galicicns, die zugleich auch immer die Sache der unteren Volksschichten ist, da Kastilisch nach wie vor die Sprache der Herrschenden ist.
Der Sozialstruktur Galiciens entsprach auci die politische Orientierung der zumeist kurzlebiges galegistischen Parteien und Bewegungen, die vorwiegend dem Schutz des bäuerlichen Kleineigentums verpflichtet sind, während die großen Parteien der gesamtspanischen Linken sich zunächst noch wenig für die Regionalbewegungen interessieren. 1897 entsteht die Galegische Liga, die zusammen mit zahlreichen lokalen Bauernbünden und der vorübergehend mitgliederstarken anarchistischen >Unión Campesina< (Bauernbund) die Bauern zu Massenaktionen großen Ausmaßes gegen ungerechte Pachtverträge und Kazikentum mobilisiert. Im Verlaufe der Bauernunruhen, die 1908 ihren Höhepunkt erleben, bildet sich als eine weitere Partei die Galegische Solidarität, die 1912 in der Galegischen Aktion aufgeht. Unter dem Eindruck der letzteren ist die militante Dichtung Ramón Cabanillas' (1876-1956) entstanden, der inmitten der mythologisierenden Richtungen wieder zu den kämpferischen Akzenten eines Curros zurückfindet. Mit seinem Band >Da terra asoballada< (Vom geknechteten Land) will er Wege zur sozialen Befreiung der Bauern und zur politisch-nationalen Bewußtseinsfindung seines Volkes weisen.
In den ersten drei Jahrzehnten unseres Jahrhunderts institutionalisieren sich die nationalen Bestrebungen der Galeger. Den politischen Organisationen folgen kulturelle und sprachpflegerische: von La Coruña und dem Schriftsteller Antón Villar Ponte (1881-1936) ausgehend, entstehen 1916 die >Irmandades de fala< (Sprachbruderschaften), die überall in Galicien und unter den Auswanderern in Argentinien und Kuba großen Zulauf finden. Ihr Ziel ist die Verteidigung und Pflege der galegischen Sprache, die als Katalysator des Patriotismus angesehen wird. Schon auf ihrem ersten Kongreß 1918 forderten sie die Durchsetzung des Galegischen als offizielle Sprache Galiciens und zugleich die politische Autonomie als Schritt zur Lösung der wirtschaftlichen und sozialen Probleme. Dieses Programm wurde der Ausgangspunkt für alle späteren Autonomiestatuten. Aus dem Kreis der >Irmandades< gingen die bedeutendsten Vertreter der galegischen Autonomiebewegung der 2. Republik und der Jahre des Exils während der Franco-Diktatur hervor, allen voran Alfonso Rodriguez Castelao (1886-1950). Die >Irmandades< strebten eine staatliche Verbindung mit Portugal an (das seit 1910 Republik war!), um in der über mehrere Kontinente verbreiteten portugiesisch-brasilianischen Sprach- und Kulturwelt einen Rückhalt zu erlangen. Sie bemühten sich deshalb auch um die Angleichung der galegischen Orthographie an die portugiesische.
(1) Für die folgenden Ausführungen vgl. Pilar Vázquez Cuesta, Literatura Gallega, in: Historia de las literaturas hispánicas no castellanas, Madrid 1980, S. 621-896.
(2) Vgl. Dámaso Alonso, Cancioncillas >de amigo< mozárabes, primavera temprana de la lírica europea, in: Revista de Filología Esp., XXXIII, 1949, S. 33o ff.
(3) In: España: un enigma histórica, Buenos Aires, 2. Aufl. 1962, S. 414 ff.